Wien und das Mezzanin

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 33/2016 zum 17.8.2016.

Liebe Frau Andrea,
ich bin nicht ganz neu in der Stadt und dann doch. Von Karl-Marx-Stadt nach Sankt-Marx-Stadt, wie Freunde kalauern. Bitte erkären Sie mir, was das ist hier, mit all den Mezzaninen. Versteh das nicht.
Maik Kaschulpke, Wien

Lieber Maik,

nun denn, öffnen wir die Büchse der Etagen-Pandora. Sie werden nach meinen Explikationen nicht weniger verwirrt sein als vorher. Ein nachträglicher Willkommensgruß soll sie dennoch einführen in das vertikale Labyrinth, in dem sich alle auskennen.

In einer normalen mitteleuropäischen Stadt werden sämtliche Etagen, die sich über dem Erdgeschoß befinden, als Stockwerke bezeichnet und von unten nach oben durchnummeriert. Auch Wien machte hier ursprünglich keine große Ausnahme. Prototypisch für diese Zeit der Normalbenennungen kann das Biedermeier gelten. Wer es sich leisten konnte, besiedelte die Bel-Etage, den eleganten Ersten Stock, den guten Kompromiss zwischen Luft- und Lichtverhältnissen (oben besser) und Aufstiegsmühsal (unten geringer). Dazu kamen auch noch gesellschaftliche Konventionen. Je höher die Wohnung gelegen, desto ungeeigneter war sie für Repräsentation. Spätestens mit dem Anwachsen Wiens zu einer Weltmetropole kamen Baustile, technische Möglichkeiten und nicht zuletzt der liberale Furor gründerzeitlicher Extravaganzen in Konflikt mit den Bauvorschriften. Die sahen Gebäudehöhen von 25 Metern und maximal vier (später fünf) Geschoße vor. Um den Bedarf an Geschäftslokalen, Magazinräumen, Comptoirs und Dienstbootenwohnungen mit dem Eleganzanspruch an das Vorhandenseins einer Bel Etage im noblen Ersten Stock zu verbinden, erfand man eine Vielzahl von Sonderstockwerken. Legendär ist das Mezzanin (von italienisch mezzo, halb), der Halbstock. Es ging aber noch besser, wie Gründerzeithäuser beweisen, die mit Tiefparterre (Souterrain), Parterre, Hochparterre und Mezzanin insgesamt vier Stockwerke unter dem Ersten unterzubringen vermochten.

Die weitverbreitete Theorie, nach der eine sogenannte Stockwerksteuer die Wiener Geschoßinflation produziert habe, kann derzeit noch nicht belegt werden. Wissenschaftliche Recherchen dazu in den Dokumenten der MA 64 (Rechtliche Bauangelegenheiten), der MA 6 (Rechnungs- und Abgabenwesen) sowie im Wiener Stadt- und Landesarchiv führten zu keinen belastbaren Ergebnissen.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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