Zeit und Punkt

Essay für die Silvesterausgabe der Salzburger Nachrichten
31.12.2016, geschrieben am 12.12.2016.

Sie ist so ungreifbar wie allgegenwärtig, nichts entzieht sich ihrem Wirken, sie selbst aber vergeht unablässig. Die Zeit. Gibt es sie überhaupt? Wie können wir sie fassen? Und wenn das nicht gelingt, wie können wir ihr das entringen, was sie von uns trägt? Die Gegenwart, den Augenblick.

Die Fotografie versucht das. Sie stellt sich dem Vergehen der Zeit entgegen, indem sie den Augenblick einfängt. Dabei ist Augenblick nicht gleich Augenblick. Manche von ihnen, der Zeit entrissen, erzählen mehr als andere.
Der berühmte österreichische Fotograf Erich Lessing merkt zur Wahl des ‘richtigen fotografischen Augenblicks’ an, dieser könne nicht vorherbestimmt werden. Lessing illustriert dies mit einer Anekdote über den österreichischen Nachkriegs-Fotografen Erich Kopetzky. Wenn man diesen gefragt habe, wie er seine großartigen Bilder geschossen habe, habe er geantwortet: “Auf meinem Sucher ist ein Glöckerl montiert. Ich schau‘ durch, und wenn sich das richtige Bild ergibt, läutet das Glöckerl. Dann muß ich nur mehr auf den Auslöser drücken.”

Der französische Fotograf Henri Cartier-Bresson (und Magnum-Kollege Lessings) bezeichnet in seinem 1952 erschienenen Buch ‘Images à la sauvette’ den Augenblick, in dem das ‘richtige Bild’ entsteht, ja gewissermassen überhaupt entstehen kann, als ‘l’instant décisif’ – als ‘den entscheidende Augenblick’: “Photographieren: Das ist das gleichzeitig und im Bruchteil einer Sekunde sich vollziehende Erkennen der Bedeutung eines Ereignisses und das Wahrnehmen der genauen Anordnung der Form, die diesem Ereignis den richtigen Ausdruck gibt.” “Es gäbe”, so Cartier Bresson in einem späteren Interview, “diesen kreativen Sekundenbruchteil bei der Aufnahme eines Bildes. Das Auge müsse eine Komposition oder einen Ausdruck, den das Leben selbst ihm offenbare, erkennen. Und der Fotograf müsse intuitiv wissen, wann die Kamera auszulösen sei. Dies sei der Moment, in dem der Fotograf kreativ sei, sagt Bresson: “Ups! Der Augenblick!” Einmal versäumt, sei er für immer weg.

Lessing, Kopetzky und Cartier-Bresson bezeichnen, die Fotografie betreffend, eine Erfahrung in der Wahrnehmung von Zeit, die schon in der Antike beschrieben wird und in Figuren aus dem Götterensemble personifiziert werden.

Kairos, der ‘entscheidende Zeitpunkt’, ‘der günstige Augenblick’ bedeutet zunächst, adjektivisch gebraucht (kairios) ‘am rechten Platz zu sein’ (so bei Homer), bei Hesiod dann die zu beachtende Norm der Treffsicherheit einer Entscheidung. Kairos entspricht also jenem Augenblick, in dem etwas ‘bestimmtes’, etwas ‘besonderes’ passiert.

Kairos (lateinisch Caerus), jüngster Sohn des Zeus galt in der Antike als Personifizierung der ‘Gelegenheit’. In einer Fabel Aesops wird Kairos (Caerus) als schnelllaufender, auf Messers Schneide balanzierender Jüngling beschrieben – nackt und kahl bis auf eine Stirnsträhne. Nur an dieser Haarlocke könne der Kairos erfasst werden, war die Botschaft zum Ergreifen der Zeit, und dies auch nur von vorne, en face. Gut vorbereitet musste man dazu sein, ein einziger Versuch war möglich. Sei der Kairos einmal vorbeigelaufen, gelänge es nicht einmal Jupiter, diesen zu fassen und wieder zurückholen. Kairos war für die antiken Griechen das Symbol der augenblicklichen Gelegenheit. Bemühungen, so die intendierte Botschaft zur Personifikation, sollten nicht durch Laschheit und Zögern untergraben werden.

Aesops Fabel bezieht sich selbst auf einen Versuch, Zeit einzufangen. Sie übersetzt den Anblick einer Statue des griechischen Bildhauers und Bronzegiessers Lysipp in ein Narrativ.

Von gänzlich anderem Charakter war Chronos, der Urgott der Zeit. In der orphischen Weltentstehungslehre tauchte er zu Schöpfungsbeginn auf, selbstgestaltet, aus dem Chaos. Chronos stellte man sich schlangengestaltig vor, mit drei Köpfen, dem eines Mannes, eines Stieres und eines Löwen. Gemeinsam mit seiner Gemahlin, der Schlangen-Göttin Ananke (Unvermeidbarkeit), umschlang er das silberne Urwelt-Ei in Spiralen und spaltete es, um das geordnete Universum der Erde, des Meeres und des Himmels zu bilden. Nach diesem Schöpfungsakt umkreiste das Paar den Kosmos, und trieb dabei die Drehung des Himmels und den ewigen Gang der Zeit an.

Spätere antike Darstellungen des Chronos zeigen ihn als bartlose Gestalt mit großen Flügeln. Dabei war der Gott der Zeit nur Personifikation einer abstrakten Vorstellung und kein Objekt kultischer Verehrung. Seine Gleichsetzung mit Kronos, dem Vater des Zeus ist ein volketymologischer Irrtum, Chronos und Kronos hatten ursprünglich nichts miteinander zu tun.

Das Mittelalter wird Chronos schliesslich als bärtigen Greis mit Sichel und Stundenglas darstellen, jenem Gerät, mit dem vor der Erfindung mechanischer Uhren das Verrinnen der Zeit gemessen wurde.

Chronos, Kairos und das Glöckchen des Augenblicks sollten Jahrhunderte später an einem modernen Ort wieder aufeinandertreffen. Am Bahnhof.

Bis zu Vernetzung unserer Welt mit Eisenbahnschienen hatte jeder Ort seine individuelle Zeit. Stand die Sonne am höchsten Punkt, sprach man vom Mittag. Der Blick auf den Himmel, zu späteren Zeiten jener auf die Zeiger der Kirchturmuhren erlaubten eine Referenz auf diesem Zeitpunkt.

Stieg man nun in, sagen wir Kirchturmstetten, in den Zug, um nach Uhrenhausen zu fahren, fiel spätestens nach Ankunft am Zielbahnhof eines auf: Die Uhrzeiten in Kirchturmstetten und Uhrenhausen, jeweils an den lokalen Mittag gebunden, passten nicht zusammen. Reisende aus Kirchtumstetten mussten in Uhrenhausen ihre Taschenuhren auf die Lokalzeit umstellen. Für einen vernünftig organisierten Bahnbetrieb waren diese Zeitdifferenzen ein Unding. Mit der Eisenbahn zog also die einheitliche Zeit ins Land.

Chronos, der alte Flügelmann mit der Zeitsichel und dem Stundenglas konnte nun gemütlich am Bahnhof sitzen, tagaus, tagein, und mit größter Präzision das Kommen des Zuges erwarten. Kairos, der Augenblick lief nun nicht mehr auf Messers Schneide durch die Gegend, sondern reiste zweigeleisig, als Passagier vom Zeus des Maschinenzeitalters, der Dampflokomotive. Der Augenblick seines Kommens war vorauszusehen. Kairos wollte nie wieder versäumt werden. Der Augenblick hatte seine Unschuldigkeit verloren, seine Freiheit.

Nur die Fotografen spüren ihn bisweilen noch auf. Und auch nur dann, wenn sie auf Termine und Uhren vergessen.

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