Krieg und Frieden – ein Widerstehen

Liebe Freund·innen,
am Montag, 27. November 19:00
lese und spreche ich gemeinsam mit
Julya Rabinowich
in der Alten Schmiede,
Schönlaterngasse 8
„Krieg und Frieden – ein Widerstehen“

Kommet!

https://alte-schmiede.at/alte-schmiede/recital-3/istreitbari-julya-rabinowich-andrea-maria-dusl

Dies hier ist der Text, den ich lesen werde:

Download –> 2023 Dusl – Krieg Frieden Keller Angst – Text für die Alte Schmiede. Lesung am 27. November 2023

Das Bonbongeschäft

Boboville hat 1968 begonnen, da war ich sieben, sieben auf einen Streich, es war Sommer und Boboville war heiß. Gegenüber vom rosagestrichenen Haus, wo am 1. Mai die roten Fahnen der Sozialisten hingen, gegenüber vom rosa Haus mit der Putzerei, ein schönes Bild, das rosa Haus der Sozialisten mit der eingebauten Putzerei, gegenüber von diesem Haus lag das Geschäft. Die Keimzelle von Boboville. Das heilige Geschäft. Das Bonbongeschäft. bonbons stand in großen Lettern über dem Geschäft. Bonbonville hätte ich meine Insel genannt, hätte ich als Kind gewusst, das Zuckerl und Bonbons das Gleiche sind.

Das Bonbongeschäft, es existiert noch heute, meine ich, vierzig Jahre nach 1968, es war rot gestrichen und ist es noch. Rotsein hatte eine Logik für mich, lange bevor das Wort in mein Leben treten sollte. Als Siebenjährige hielt ich es für richtig, wie ich es damals nannte, dass gegenüber von Onkel Christians rosa Sozialistenhaus mit der Putzerei das rote Zuckerlgeschäft lag. Seine Auslagen waren mit Krapfen geschmückt, mit Indianern, Pariserspitz, leeren, vergilbten Bonbonnierenschachteln. Mit gelber Plastikfolie war sie ausgelegt, die Auslage, darin lagen Vanillekipferl, zu kleinen Vulkanen aufgeschichtet, Mannerbruch in Scheiterhaufenform, Windringe in zirkulär geschichteten Windringringen. Und manchesmal stand eine Nusstorte in der Auslage. Mit einem dicken Kakaocremekringel an der Schulter, gekrönt von einer Walnuss. Oder war es eine Kaffeebohne, mit der Schamspalte nach oben in den Kakaocremekringel gedrückt?

Die Scheibe des Bonbongeschäftes hatte 1968, wenn man die Scheibe gut kannte, auf Kindernasenhöhe leichte Blindheiten. Die kamen von den gierigen Häuchen, die wir beim Anblick von Torten und Mannerbruchgebirgen auf den kalten Scheiben hinterließen. Ein Besuch des Bonbongeschäftes ohne minutenlanges Verharren an der Oberfläche der Bonbongeschäftauslagenscheibe wäre kein Besuch des Bonbongeschäftes gewesen. Man musste sich genau einprägen, was man brauchte. Ob und welches Torteneck, welche Kombination wievielwelcher Zuckerl. In unserer linken Kinderbobofaust befanden sich, zwischen gekrümmte Finger geklemmt, die Schillinge. Schillinge. Einschillinge und Zehngroschenscheiben und kleine, randgerillte Fünfziggroschenknöpfe. Abgezählt. Zu imaginierten Groschentürmen gestapelt.

Denn Boboville 1968, als ich sieben war, hinter den Zwergenbergen, war immer auch Berechnung. Wie viel sich wovon ausging mit wie viel an kinderbobofaustgewärmtem Metall. Die Berechnung dessen, was die linke Faust umklammerte. Um zehn Groschen, das musste man wissen, wenn man mit der Nase an der Zuckerlgeschäftscheibe hing, ging sich immerhin ein Stollwerck aus, die Grundwährung meiner Bobovillekindheit. Mit einem im Fußabstreifergitter vor der Putzerei gefundenen Zehngroschenstück ging sich in der Frühzeit von Boboville ein Stollwerck aus. Es war so groß wie ein Auge im Quadrat und so hoch wie zwei Schulhefte dick, es war eingewickelt in ein zwergentischtuchgroßes Wachspapier. Das Stollwerck. Das Wachspapier, man musste es ablösen, solange das Stollwerck kalt war. War es warm, klebte das Wachspapier am Stollwerck. Fünf Minuten milchzähneverklebendes Lutschen ging sich aus mit dem Zufallszehngroschenstück aus der Bobovilleputzerei im Sozialistengebäude, dem TheodorHerzl-Hof. Theodor-dem-Erfinder-von-Israel-Herzl-Hof. Dass die Gasse ums Eck Malzgasse hieß, hatte Richtigkeit für uns. Schmeckte doch das braune, klebrige Stollwerck nach Malz. Oder nach dem, was wir für Malz hielten. Wir. Wir, die Bobovillekinder vorm Bonbonvillegeschäft. Und wo waren wir her? Aus der Leopoldsgasse, aus der Schreygasse, aus der Rembrandtstraße, aus der Nestroygasse. Aus der Unteren Augartenstraße, aus der Malzgasse. Die, nach der das Malz in den Stollwerck seinen Namen hatte.

Das Bonbonvillegeschäft in der Leopoldsgasse war eine Art Maschine, eine Konsumboboismusmaschine, die erste Konsumboboismusmaschine der Welt. Das Bonbonvillegeschäft musste man besteigen, es war nicht ebenerdig zu betreten. Ein kleiner, halbstufenhoher Absatz führte in eine rotbemalte Nische, rot, wie ja alles Holz am Bonbonvillegeschäft rot gestrichen war. In einem Rot, das eine leichte Fähle hatte, ein sonnengeblichenes, vom blauen Himmel ausgelaugtes Rot. Ein Rot, wie wenn man von oben in ein Himbeerkracherl schaute. Es knirschte, wenn man die Betretungsnische des Bonbonvillegeschäfts bestieg, es machte knarrende Geräusche. Selbst dem federleichtesten Leopoldsgassenkind aus der Schreygasse, in jedem Fall war das immer ich, denn ich war das zarteste, kleinste und gewichtsloseste aller bonbonaffinen Kinder in Frühboboville, selbst dem Hauch eines Kindes gelang es nicht, die Eingangsnische ohne das Eintrittsknirschen zu besteigen. Das Knirschen war Teil der Maschinerie.

Der zweite Mechanismus der Bonbonvillemaschinerie war nicht minder geräuschvoll. Eine Türe, rot gestrichen war sie und dreiviertelgläsern, sie musste an einer Griffstange gehalten und gegen den Widerstand eines Kugelschnappmechanismus aufgedrückt werden. Der Bonbontürmechanismus schärfte mein Talent für technische Zusammenhänge. Ich hatte damals keine Ahnung und heute ebensowenig, wie das Schloss hieß, war es ein englisches Patent oder ein amerikanisches? Für das Kindermich war es eine kleine Messingnuss, die von einer Feder in die Außenwelt gedrückt wurde. Sie war mit honigfarbenem Schmierfett verklebt und roch nach Fahrradkette. Die Messingnuss hielt die Türe im Schloss. Man musste mit dem ganzen Gewicht eines zuckerschuldigen Kindes an der Türe drücken, um den Widerstand der honigschmierfetten Messingnussfeder zu überwinden. Das geschah, so es geschah, denn es war nicht leicht, stets mit einem Knall, von dessen mechanischer Erschütterung die Glasscheibe in der Bonbongeschäftstüre klirrte. Leicht, so dachten wir, könnte dieses Glas brechen und zu enormen Kinderschulden bei den Bonbongeschäftsinhabern führen. Schellende Ohrfeigen, markzersetzendes Angeschrienwerden, schmerzhafte Schüttelungen und daheim dann schlicht lebenslanges Fernsehverbot nach sich ziehen. Der Eintritt ins Bonbonparadies war untrennbar mit der Angst verbunden, die Zuckerpforte zu zerstören. Indes, das Dilemma war Teil einer ausgeklügelten Inszenierung. Nie nämlich, ja nie ist das Glas des Paradiesportals aus seinen Kittfugen gesprungen. Die Diabolik dieses Mechanismus war ebenso perfide wie gefürchtet.

Hatte man die Türe aufbekommen, schlug ihr Blatt rechts oben, eine Handbreit aufgedrückt, gegen ein Glöckchen. Als hätte das Knirschen der Betretungsnische und das Knallen der Türe nicht schon genug Bonbongeschäftsalarm ausgelöst. Knirschknallklingeling, das war, in Geräusche umgesetzt, das Süßigkeitenprogramm des Bonbonvillegeschäfts. Zuckerlkauf war ein Abenteuer, dessen Ritualpartikeln sich nicht alle von uns aussetzen wollten. Ich jedenfalls hatte bald eine Technik einstudiert, die Sesam-öffne-dich-Arbeit anderen aufzuschultern. Einem anderen Kind, einer Bonbonnierekäuferin, einem Schokohurtigen, einem Diabetiker auf Selbstzerstörungstour. Irgendjemandem jedenfalls, der die honigfette Nuss für mich aufdrückte. Sobald ein Helfer nahte, stellte ich mich in die Nähe der Eingangsnische, studierte den Mannerbruch, zählte die heidelbeergeschmackigen unter den Hellerzuckerln oder dachte mir sonst eine Unauffälligkeit aus. Das hatte ich mir von den Bienen abgeschaut. Die zuckelten doch auch zögerlich vor den Kelchen herum, um mit ihrem Schwirren andere Bienen zum Blütenbesuch anzustiften. Diese Vorgänge wollen deshalb in aller Ausführlichkeit erzählt werden, weil zum Verständnis Bobovilles das Verständnis für die Abweichung gehört. Bobovillains sind am Ungleichartigen interessiert, nicht am Uniformen. Auch von diesen Vorgängen wollten die Blindheiten stammen, die in Kindermundhöhe in die Auslagenscheiben geätzt waren. Von den Häuchen der Wartenden. Von den perfide vor dem Kelch taumelnden Kinderbienen.

Und dann kam sie, die dicke Hummel im Hubertusmantel, die Tortensuchende, den Seppelhut aufs weiße Lockengebirge drapiert. Und die knirschknalldrückte mir die Türe zum Süßigkeitenjerusalem auf.

Von Innen, das will ich gerne zugeben, ließ sich die bestialische Türe so leicht wie geräuschlos manipulieren. Von Innen sehen alle Initiationsrituale lächerlich aus. So geräuschvoll der Eintritt war, so leise, so sakristeihaft still war es im Inneren des Bonbongeschäfts. Ein Zimmerchen, von einer L-förmigen Glastheke beherrscht. Keine von den Bonbonischen befand sich je bei Eintritt in ihr Reich hinter dieser Budel. Die Bonbonischen befanden sich in lauernder Stellung, in der Tiefe ihrer Geschäftsräume. Ich entwarf ein Bild von ihnen, wie sie auf rosaledernen Sofas, im Lichte schokoladenfarbener Stehlampen vollgeklebte Fußballbilderalben studierten und Eskimoeiskataloge, Keksbestelllisten ausfüllten oder auch nur die Kreuzworträtsel in der Zuckerbäckerinnungsgazette. Vielleicht schliefen sie auch auf großen Schaumrollen? Designschaumrollen gewiss. Aus der Carnaby Street. Im Lichte himbeersaftfarbener venezianischer Luster.

Wie auch immer, nach dem Vergehen einer guten Minute krabbelte eine der Bonbonischen aus ihrem Versteck, nach meiner Erinnerung eine kleine, dicke Frau mit blaukarierter Textilviertelschürze, die Leopoldstädter Friseurbesuchsfrisur im Haar, zur Zeit, in der meine Erinnerung spielt, war es das silberblau getönte Lockenhaupt. Die Frisur der Gegend war uniform, silberblaue Dauerwelle. Nur Frau Natiesta im dritten Stock unseres Hauses in der Schreygasse, einen Apfelbutzenwurf von hier Richtung Leopoldsberg, hatte weißgoldenes Haar.

Die Bonbonische war mürrisch, sie hatte dicke Hände wie die Babuschkas in der Ukraine, wie die Waldviertler Kartoffelbäuerinnen. Dicke, kurze Hände. Und mürrisch war sie. Alle Bonbonischen sind mürrisch, anders als mit militanter Mürrischkeit lässt sich ein Bonbongeschäft nicht führen. Die Mürrischkeit paarte sich mit Präzision. Der Bonbonischen konnte man die ungeheuerlichsten Listen vortragen. Mehrstellige Listen. Listen, die von 17 weißen Stollwerck handelten, drei Liebesherzen, zwei Fizzersrollen, zwei Bazooka-Kaugummi-Paketen, drei Kuverts Fußballbildern, zwei Schlangen, zwei Colaflascherln aus Gummi, einer Packung Brause Orange, einer Packung Brause Zitron, einem Leberknödel.

Die Bonbonische hatte im Kopf mitnotiert, und schon beim Ausklang des Wortes Leberknödel, oder was auch immer das Ende der Liste markierte, die Summe parat. Dreizehn dreißig. Mehr als Dreizehn dreißig überstieg so ein Großeinkauf im Bonbongeschäft nie, und es war immer eine Kombination aus Groschen und Einschillingmünzen. Und immer zahlten wir sofort. Nach Bekanntgabe der Liste. Erst dann grub die Bonbonische in den Details und schichtete mit einer Genauigkeit, für die sie Uhrmacher beneideten, unser Zuckerwerk in weiße Papiersäckchen. Mit denen man später, waren sie leer und aufgeblasen, einen bobovilleerschütternden Knall machen konnte. Mürrische Genauigkeit. Die lernten wir bei der Bonbonischen. So waren die mehrstelligen Listen ja auch zusammengestellt worden, durch mürrisch genaue Kalkulation von Zuckerlpreisen. Zehngroschenscheiben ließen sich gegen Stollwercke tauschen, Fünfziggroschenknöpfe gegen Fizzersrollen, Bazooka-Gums, Brausesäckchen und Gummilutschzeug. Nur die Panini-Fußballbilder waren in Schillingwährung geerdet. Und der dicke, fette Leberknödel, das Zweischillingmonster. Sein wuchtiger Preis folgte gestalterischer Logik. Nach dem Essen der Nougatbombe war der Kindermagen verklebt. Nicht mal Brause konnte dann den fetten Nougatleberknödel durch den Bauch spülen. Der Nougatleberknödel war der Gruftdeckel des Zuckerlgrabs.

Das Reich der Bonbonischen war im Gegensatz zu den anderen Geschäften auf der Insel auch an Sonntagen geöffnet. Manchesmal musste ich hier Sonntagsmilch für daheim einkaufen. Oder Sonntagskaffee. Oder Sonntagszucker. Die Bonbonischen verwahrten Milch auch an Nichtsonntagen in einem Geheimkühlschrank. Denn die Zuckerlgeschäftkonzession verbot 1968, im Jahr, als am Boulevard SaintGermain die Pflastersteine flogen, gewiss den Verkauf von ungezuckerten Nahrungsmitteln. Es war mir damals schon bewusst: Geschäft ist immer auch Verbrechen. Milch verkaufen, wo Milchverkauf verboten ist. Kaffee verkaufen, wo Kaffeeverkauf verboten ist.

Bei den Bonbonischen saßen manchmal Leute vom Grund. Ausgemergelte Gestalten bei einer Tasse schwarzen Mokkas, die sich vorgaukelten, bei den Bonbonischen etwas für die Gesundheit zu tun. Mokka und Underberg tranken sie, an einem Resopaltischchen sitzend, und auch wenn sie dabei keine Falk inhalieren durften und keine Ernte 23, war das für die Ausgemergelten gewiss so gesund wie Zuckerzeug für Kinderzähne.

Das himbeerkracherlrote Bonbongeschäft gegenüber von Herzls sozialistischer Dampfbügelei ist der Nabel von Boboville. Auch wenn andere Bobovillains von anderen Nabeln wissen wollen. Von Nabeln im Village oder im Marais. Oder Umbilicae in Castro, Mitte und Kreuzberg. Alles Quatsch. Der Omphalos von Boboville ist das rot gestrichene Bonbongeschäft gegenüber vom rosa Gemeindebau, der nach Theodor Herzl benannt ist. Gestern habe ich das Schreiben des Bobovillebuchs unterbrochen, um in einem hastigen Anflug von Bekümmerung in die Leopoldsgasse zu fahren und Nachschau zu halten, ob das Bonbongeschäft überhaupt noch existiert. Ich parkte vor dem rosa Gemeindebau, wie es sich für Bobovillains gehört, mit drei Rädern im Kriminal, auf der Bushaltestelle nämlich. Mein Schreck war groß. Das Bonbongeschäft existiert. Unverändert. Sogar die gelben Plastikbahnen in seinen Auslagen sind noch da. Etwas gebleicht von der Leopoldstädter Sonne.

Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg, 2008, pagg. 10ff.

Salzburger Wünsche für 2023

Mit den Wünschen ist es so eine Sache. Bescheidenheit soll die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung verbessern. Kurz: Man wünsche sich nicht zu viel. Andere wieder sagen, man solle überschießend wünschen, um ein besseres Verhandlungsergebnis zu erzielen. Aber sind Wünsche verhandelbar? Wie auch immer, ich wünsche mir für 2023:

a) Die Wiedervereinigung von Zukunft und Glück, b) die Umverteilung von Oben nach Unten, c) die Trennung von Staat und Bosheit, d) ein Musikgedudelverbot in Gaststätten und Geschäften, e) das Ende der Pandemie, f) öfter am Meer zu sitzen, g bis z) Frieden.

Andrea Maria Dusl. Für die Silvesterausgabe der Salzburger Nachrichten am 31. Dezember 2022.

Das Wörterbuch der neuen Wörter

Neue Zeiten bringen neue Wörter. Begriffe werden umgedeutet, andere verschwinden. Die Autorin und Zeichnerin Andrea Maria Dusl hat eine kleine Liste gemacht. Und ein Schaubild.

Dieser Text ist ein Teil einer ressortübergreifenden Serie des STANDARD zum Thema Sprachwandel.

https://www.derstandard.at/story/2000126824641/pandemie-bereichert-sprache-das-woerterbuch-der-neuen-woerter

A
Ampel: Jede blendende Idee ist in Österreich immer auch eine blede Idee.

Angst: Die einen haben Angst vor Corona, die anderen Angst vor Masken. Dazwischen: die Nasenraushänger.

B

Babyelefant: Das Haustier von Rudi Anschober und Karl Nehammer ist längst entschlafen. Das putzige Rüsselkind war immer nur ein Phantasma, sagen die Babyelefantologen der Universität Trippstrill, eine Art Bigfoot. Niemand habe den Babyelefanten jemals angetroffen.

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Seltsame Vorgänge

Ich wache jede Nacht verlässlich zwischen 2h und 2h10 auf. Jede Nacht, ausnahmslos. Warum? Ganz einfach, ich muss aufs Klo. Ich bin dabei schlaftrunken und ich mache kein Licht. Ich sehe im Dunkeln soviel, dass ich mich orientieren kann. Auf dem Gerät schräg gegenüber meinem Bett, es steht auf dem Fernsehwägelchen, auf dem Gerät, das mir die Fernsehkanäle in den Fernseher spült, nennen wir es „Box“, leuchtet nächtens die Uhrzeit. In schwach grünen Ziffern. Deswegen weiß ich das. Weiß ich, wie spät es bei diesem nächtlichen Kurzaufwachen ist. Weil ich es jede Nacht sehe. Meine normalen Uhren (die mit dem Zeiger) haben keine Leuchtdioden. Und es wäre zu dunkel, um auf ihnen die Uhrzeit ablesen zu können. Aber die Anzeige auf der Box kann ich entziffern. Wie gesagt, jede Nacht, verlässlich um 2h. Manchmal um 2h 02, manchmal um 2h 06. Seit vielen Monaten. Seit vielen Jahren. Im Halbschlaf, in dem das jeweils stattfand, maß ich der Ziffernkontinuenz keine Bedeutung zu. Oder doch: Ich dachte mir kurz: Aja, die Innere Uhr. Immer pünktlich.

Das Uhrzeitablesen war schnell vergessen. Aber vorgestern Nacht dachte ich kurz nach, wieso mein Fernsehkanalgerät, die „Box“, beim nächtlichen Erwachen immer 02:00 zeigt, oder 02:02 oder 02:06. Und dann schoß es mir im Dunkel des Kurzaufstehvorgangs durch den Kopf! Ist nicht 0202 der Kanal 202, dort wo ich ORF 2 sehe? Und 0206 ORF III? Und 2011 ZDF? Könnte es also sein, dachte ich mir im Halbschlaf, dass diese Ziffern nicht die Uhrzeit sind, sondern die Nummern der Kanäle, die ich angezappt hatte, bevor ich den Fernseher abdrehte? War ich deswegen so regelmäßig dran? Wie ein Uhrwerk, vermeintlich gesteuert vom Inneren Auge, was weiß ich, von der biologischen Zirbeldrüsenuhr?

Check your Data, dachte ich mir beim Schnellwiedereinschlafen. Manchmal sind die Dinge anders, ganz anders.

Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte setzte sich in der Nacht darauf fort. Ich wußte beim Einschlafen, dass ich verlässlich um 2h02 aufwachen würde, weil ich ja ORF2 gesehen hatte. Und tatsächlich wachte ich um 2h02 auf. Auf dem Leuchtdisplay Box stand es. Grünflimmernd, im Dunkel der Nacht: 0202. Und dann passierte es. 0202 wechselte auf 0203. Und dann entdeckte ich die kleinen Punkte zwischen 02 und 03. 02:03 stand da, tatsächlich! 02:03 und dann 02:04. Es war also doch eine Uhr. Ich sah auf mein Handy, schon hellwach. Es war tatsächlich auch dort: 02 Uhr 04! Ich hatte und habe also wirklich eine Innere Uhr, die mich verlässlich zwischen 2h und 2h10 weckt. Jede Nacht. Einen inneres Zeitmesser, ein verlässliches Zirbeldrüsenauge. Innen.

Neue Devise also:
Check your data.
And check the Deutung too.
Bis morgen 02:02.

Restaurant Seidl

Heute Nacht geträumt, ich wäre mit Freundinnen und Freunden, allesamt Burgtheaterschauspielerinnen mit Auftrittsverbot in einer Stadt am Meer gewesen, die aber aussah, wie eine Mischung aus Rimini, Berlin Mitte, Naschmarkt und Karmeliterviertel. Wir lungerten im Schanigarten einer Coronabar unter großen Sonnensegeln und frühstückten gelangweilt, ohne Perspektive. Das Lokal wurde von Kollegen Ulrich Seidl geführt, der im Traum rote Haare und Sommersprossen hatte, und etwas dick war, jedenfalls aber eine Kochschürze mit dem eingestickten Logo „Seidl Restaurant“ trug. Er kam raus, um die Speisekarten zu verteilen. Dabei nahm er mich zur Seite und gab mir eine Speisekarte zu lesen, in die er mit Bleistift Sachen gekritzelt hatte, die nur für mich gedacht waren. Eine Art Motivationsschreiben. Mit mahnendem Blick forderte er mich auf, filmisch weiterzumachen, ein bisschen gehetzt und müde war er dabei. In die Speisekarte eingelegt war zudem der Zeitungsausschnitt eines Boulevardblatts, in dem ich zusammen mit noch wem (keine Ahnung wer), und mit Kollegen Nikolaus Geyrhalter namentlich erwähnt wurde. Inhalt der Meldung war, dass die Filmbranche am Boden liege, und nicht mal wir drei was von uns gäben.

Dietmar Steiner, Laudatio

Dietmar Steiner, von 1993 bis 2016 Direktor des Architekturzentrums Wien, österreichischer Architekturpublizist, Architekturhistoriker und Architekturkritiker ist am 15. Mai 2020 verstorben.

Anlässlich der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien am 6. Dezember 2017 hielt ich im Wiener Rathaus eine Laudatio auf Dietmar Steiner. „Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur waren gekommen, um bei der Feierstunde dabei zu sein“,  berichtete die Rathuaskorrepondenz, „allen voran Bürgermeister Michael Häupl, Vzbgm. Maria Vassilakou, StR Michael Ludwig, EU-Abg. A. D. Hannes Swoboda, Christian Oxonitsch, Heide Schmidt, Rektor Gerald Bast, Angelika Fitz, Direktorin Az W, Fritz Achleitner, Walter Gröbchen uvm.“


Laudatio auf Dietmar Steiner

Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien
Andrea Maria Dusl, 6. 12. 2017

Magnifizenzen und Exzellenzen,
Brüder und Schwestern,
Damen und Herren,
Freundinnen und Freunde!
Lieber Dietmar!

Welches wäre der ideale Ort, jemanden kennenzulernen, der alles über das Ideal weiß, und alles über Orte? Wo und wie würde man sprechen über das Unaussprechliche, über sich selbst? Diese Fragen spiegelten sich in uns, als wir einander trafen, um über Dietmar Steiner zu sprechen. Dietmar Steiner und ich.

Im Versuch den idealen Ort zu bestimmen, trafen wir einander also in einem Hotel. Kein Ort wäre und war idealer als der unideale Unort. Das Hotel. Dietmar Steiner kam aus seiner Wohnung angereist, ich aus meiner. Nicht das Kaffeehaus war unser Treffpunkt, obwohl es Wien war, wo wir uns trafen, nicht sein Büro, nicht mein Atelier. Ein Hotel. Am Fluss. Das Intercont. Das mit dem Luster. Das mit der Legendenbar. Die Absteige für Präsidenten. Der Riegel in der weltkulturerblichen Blickachse.

Im Niemandsland der Hotellobby des Intercont trafen einander Steiner und ich, weil es ein Niemandsland braucht, um alles zu besprechen.

Die Aufgabe war nicht leicht. Die Aufgabe war schwer. Ja unlösbar. Und weil sie schwer war und unlösbar, geriet sie leicht und wurde lösbar. Die Aufgabe war ein Film über Dietmar Steiner. Wir haben einen Film gemacht, Dietmar Steiner und ich, einen Film über Dietmar Steiner. Wer je einen Film gemacht hat, kennt das Dilemma: Man kann nur Filme über sich selbst machen. Also musste ich zu Dietmar Steiner werden. Das sollte gelingen. Aber konnte es gelingen?

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10 Dinge, eines gelogen

Der von mir überaus geschätzte österreichische Autor und Journalist David Baum  hatte mich auf Facebook darum gebeten. Ohne Zögern machte ich bei dieser “Competition” mit und listete 10 Dinge auf, von denen zu behaupten war, dass ich sie mal getan hätte. Eines davon, so die Vorgabe, musste gelogen sein.

Ich habe/bin, so behauptete ich (und führe im Folgenden auch den Nachweis):

1. von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.
2. Rocko Schamoni in einem Theater einen Zungenkuß gegeben und erst später erfahren, wer das war.
3. einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt.
4. in Ascona die 5-Sterne-Suite neben Sydney Pollack bewohnt.
5. in Rom bei einem Mafia-Gala-Diner Ehrengast gewesen.
6. auf einem Fest 34 weiße Spritzer getrunken.
7. mit Gerd Schröder in Köln Boogie Woogie getanzt.
8. mit den Leningrad Cowboys im Alt Wien bis in den frühen Morgen Schnaps gesoffen.
9. mich eines Nachts im Café Kunsthalle angezündet und in Flammen gestanden.
10. im Suez-Kanal geschwommen.

Die sehr sehr argen Sachen und Begebenheiten meiner Biographie konnte ich nicht in dieser Liste versammeln. Das waren Sachen, wo meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Satz: „Du hast Schande über unser Haus gebracht“ und Ähnliches, ja Schlimmeres von sich gegeben haben. Von Außenstehenden habe ich zu ausgewählten Erlebnissen meiner persönlichen Geschichte den Satz „das habe ich noch niemals erlebt“mehrmals gehört.

Ich bin übrigens untätowiert und habe noch alle Finger. Und ich hatte, dabei klopfe ich dreimal auf Holz, noch nie einen Verkehrsunfall. Bis auf den einen vor meinem Gymnasium, wo der Richter seiner Tochter die Autotüre öffnete und ich mit dem Rad gegen ebendiese Türe krachte. Der kleine Finger meiner linken Hand ist seither gefühllos.

Löse wir die Geschichten in der auf Facebook geposteten Reihenfolge auf.

1. Ich bin von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.

In den 80er Jahren arbeitete ich als Bühnenbild-Assistentin, war sehr unglücklich und wollte dringend nach London auswandern um dort vom Glück einer wirklichen Stadt zu naschen. Ich sparte und sparte Geld und sagte mir, ‚ich mache alles, um endlich aus dem grauslichen Wien rauszukommen‘.

Ich studierte den Stadtplan von London, als das Telefon schrillte. „10 Dinge, eines gelogen“ weiterlesen

Kein Erster Mai

Shut-Downs, Quarantänen und Zusammenkunftsverbote hemmen unser soziales Leben allerorten. Corona, die Königin der Viren macht auch vor der traditionellen Mai-Kundgebung der Wiener Sozialdemokratie nicht halt. Andrea Maria Dusl denkt für das STANDARD-Album über den rötesten Tag des Jahres nach. Heuer wird er nicht stattfinden.

Hier geht’s zum –> Artikel im Standard.

Welcher erste Mai mein erster Erster Mai war, kann ich nicht sagen. Die Sache ging aber schon früh los. Früh in meinem Leben und früh für einen Feiertag. Erst zog mich der Erste Mai ans Fenster, dann auf die Gasse und schließlich, mitmachend, auf den Rathausplatz. Ähnlich wie Weihnachten (leichtes Christkindgebimmel) und Ostern (Kirchturmgeläut) war der Erste Mai immer auch ein heftiges akkustisches Ereignis. Der erste Mai war nämlich laut. Blasmusikalisch laut. Das mag für Landkinder nichts außergewöhnliches sein, für die Kinder aus Wien war der Klang einer Musikkapelle etwas singuläres, an phonetischer Präsenz vergleichbar mit den Sounds, die aus den Lautsprecherwägen der Zirkusankündiger kam.

Am Schmettern der Kapelle konnte man die Marschierenden schon von weitem hören, und wer direkt an einer der Routen wohnte, konnte sie sehr bald auch sehen. Viele Menschen, junge und alte, die hinter Fahnen schritten, roten natürlich, vielen roten, und auch ein paar blauen (denen der Falken). Die Marschierenden trugen rote Jacken, rote Mützen, rote Schals, schwenkten rote Wimpel, und zogen rote Luftballons hinter sich her. Das war alles nicht sehr katholisch (die Blasmusik mal ausgenommen), aber insgesamt sehr wienerisch.

An ein Mitgehen dachte ich als Kind noch nicht, meine Eltern waren zwar Kreiskywähler, aber ganz dem bürgerlichen Habitus verpflichtet. Am Fenster standen wir dennoch und sahen den Maibewegten zu. Und weil ich ein Kind war, winkte ich. Die Vorbeigehenden winkten zurück (es kann auch umgekehrt gewesen sein). Das Statische und Kurze an meinen frühen Maiteilnahmen sollte ins Mobile und Längere kippen, als ich ein eigenes Fahrrad hatte, mit dem ich an Werktagen ja auch in die Schule fuhr.

So ein Fahrrad, das war stadtweit bekannt, konnte, sollte, musste man an einem Ersten Mai festlich schmücken, mit rotem Krepp, in die Räderspeichen geflochten, mit roten Fähnchen, an die Lenkstange gebunden. Zu diesem vexillaren Aufputz addierte sich ein einmaliges Element des ausdrücklich Erlaubten: Fahrräder durften dauergeklingelt werden an einem Ersten Mai. Das war schon sehr fein. Jahrelang bin ich also am Ersten Mai nicht mitmarschiert, sondern laut schellend mitgefahren. In der Seitenfahrbahn. Zwischen den Marschierenden herumzugurken, hätte sich niemand getraut, ich schon garnicht. Irgendwann, meist bei der Uni, hieß es dann absteigen, und in die Passivität geworfen, den Zügen auf der Ringstraße beim Vorbeimarschieren zuzusehen. Neidvoll, wie alle Zuseher großer Sachen. Im Gegensatz zum Blick aus dem Wohnungsfenster war das Danebenstehen schon fast ein Mitmachen.

Und dann irgendwann habe ich das Rad daheimgelassen. Habe das pünktliche Kommen des Leopoldstädter Zuges antizipiert, mich beim Nahen der Blasmusikklänge nach unten begeben, bin eiligen Schrittes die Gasse entlanggelaufen und habe mich eingereiht. Aber was war das für ein Einreihen? Es war ein zaghaftes, bescheidenes, ich kannte ja niemand, und niemand kannte mich. Es gab kein Hallo, kein Grüssdich, kein Freundschaft. Und dennoch war es etwas Selbstverständliches, und vielleicht sogar etwas Heiliges. Ich war also einfach da, in dieser hehren Sache. Ging mit, wieder am Rand natürlich, aber schon in der Hauptfahrbahn, im hinteren Drittel. Lernte das erlaubte Gehen auf unerlaubten Strecken. Und irgenwann, an einem anderen Maibeginnmorgen auch auch die Teilnahme am bisher Unbekannten. Lernte das Einfinden am Bezirkstreffpunkt, das langsamen Warten auf den Abmarschzeitpunkt, das Abgehen der ganze Route (Winkende in Fenstern!), das Größerwerden des Zuges (Radfahrende in den Seitenfahrbahnen! Mitmachbereite am Gehsteigrand!), das Warten an den großen Kreuzungen und schließlich den Einzug auf den Rathausplatz. Aber was war das Alles? Eine Demonstration? Ein Umzug? Eine Prozession? Für eine Prozession war es zu fröhlich (und zuwenig klerikal), für einen Umzug zu feierlich, und für eine Demonstration zu institutionell.

Von Außenstehenden, wohlwollenden wie übelwollenden, aber auch von neutralen Beobachtern wird der Sternmarsch aus den Bezirken und Sektionen Wiens zum Rathausplatz als Huldigung der Stadtspitze, der Gewerkschaft und (so der Fall) eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers verstanden. Wie wird das Ereignis medial und privatanekdotisch wahrgenommen? Auf massiv erhöhter Tribüne stehen Auserkorene, winken mit roten Taschentüchern und freuen sich über die Einziehenden. Das ganze wird als seltsame Parade verstanden, die Traditionen des Vorbeimarsches an der Ehrentribüne am Roten Platz (des Balkon des Leninmausoleums also) nacherzählt. Dabei ist es ganz anders. Auch Teilnehmende auf der Tribüne mögen das nicht in aller Konsequenz wissen.

Der Rathausplatz mag das Ziel sein, seinen Ausgang aber hat der Marsch weit draußen, in den Bezirken Wiens. Hier formiert sich die sozialdemokratische Basis, die Mitglieder und Bewegten von Sektionen, Organisationen, Vorfeldorganisationen, Verbänden, Fraktionen der SPÖ, in der Regel jener der Stadt. Unter Mitnahme ihrer Fahnen (meist alter), von Transparenten (auch kritischer) und anderen Sichtbarkeiten (Abzeichen, Fähnchen, rote Nelken) marschieren sie auf alten Routen Richtung Rathausplatz. Zu einem einzigen, oft vergessenen Zweck: Dem Rathaus, also der Obrigkeit, ihre Stärke zu zeigen. Gehuldigt wird nicht den dort Stehenden, sondern einzig einer Idee: Der Arbeiterbewegung und ihren Werten. Und so heißt der Erste-Mai-Aufmarsch der Sozialdemokratie Wiens auch „Demonstration“.

Sollte sich die Tribüne (oder ausgewählte Partizipierende dort) von den Zielen der Sozialdemokratie entfernt haben, wird das von der Basis sichtbar und hörbar kundgetan. Zugegeben, das geschah noch nicht so oft. Die gellenden Pfiffe und Buhrufe gegen Werner Faymann und seine Prätorianer waren, auch wenn das die Tribüne damals als verräterische Schmach wahrnehmen musste, ein Zeichen der Stärke der Sozialdemokratie, nicht eines der Schwäche.

Die schwachen Zeichen sitzen ohnedies wo anders. Des Mitmarschiens ungeübt oder müde sitzen ausgewählte Salonmarxisten mit schriftstellerischer, psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Kompetenz, in Lautsprechernähe zum Rathausplatz. Mit Sonnebrillen und Seidenschals angetan fläzen sie in der Sonne der Café-Landtmann-Terrasse und lamentieren über die rhetorischen und inhaltlichen Defizite der Rathaus-Reden. Auch sie wissen um die Kraft der Rituale.

Diesen Ersten Mai werden keine Blasmusikkapellen vom Kommen der Bezirksroten künden, denn die Bezirksroten werden sich nicht am Treffpunkt eingefunden haben. Vielleicht wird jemand am Fenster stehen, aber da wird niemand vorbeimarschieren.

Die Bewegten und Lamentierer werden diesen Ersten Mai in großem Abstand voneinander verbringen, sich, so sie eines haben, im Home-Office einfinden, um allfälligen Live-Streams der Parteispitze lauschen. Sollten Pfeiferl vorbereitet worden sein, werden sich diese nicht zu einem Konzert verdichten, Unmut wird zu Wehmut werden. Dieser Erste Mai wird nicht sein wie sonst. Dieser erste Mai wird nicht stattfinden.

Lob der Beamtenregierung

Sind die Experten unsere Rettung? Kurzgeschichte ohne Sebastian.
Ein Versuch von Andrea Maria Dusl

Für Standard ALBUM vom 1.6.2019

Die rauschende Nacht in der Miet-Finca auf Ibiza hat Österreich verändert wie keine Nacht davor. Die Late-Night-Show mit falscher Oligarchin aber echten Deppen bedeutete nicht nur das Ende des Heinz Christian Strache und seines Amigos Johann Baptist Gudenus, sondern mit kurzer Verzögerung auch der Regierung Kurz. Der Fall von Vizekanzler und Kanzler bedeutete auch das Ende des Ministers alten Stils, des Regierungsmitglieds mit überschaubarer Expertise.

Nichts ist nach Ibiza wie es vorher war. Der Amtsträger ohne Ahnung hat ausgedient: Der Versicherungsvertreter mit dem Lächeln aus Glück, der Studienabbrecher mit der Endreimbegabung, ja und auch der Taxifahrer aus der Seilschaftsgilde. Sie alle haben ausgedient.

Angekündigt hatte sich der Paradigmenwechsel mit dem Ruf nach einer „Expertenregierung“. Die Satiriker des Landes fragten sogleich nach, was so schlecht an den Nichtexperten gewesen war. Und falls doch, wieso man das erst jetzt, post Ibizam in solcher Deutlichkeit erkenne. Wie auch immer, der Übergang zwischen Dilettantokratie und Expertokratie hat alle Qualitäten eines Lehrstücks und berührt in österreichischer Leichtigkeit die Themen der großen Literatur. Er enthält die besten Passagen aus Shakespeares Königsdramen, wesentliches aus Goethes Ballade vom Zauberlehrling, und nie fehlt, was das Publikum tatsächlich erfreut: Die derbe Direktheit eines Volksstückes. Die Protagonisten des Dramas wechseln mit jedem neuen Akt, aus der Kulisse treten Unbekannte, in die Versenkung fahren Bekannte. Das Getöse ist groß, die Theaternebel dicht. Die Plots sind bizarr und verdreht wie schlecht geflochtene Zöpfe. Und auch das Genre der dramatischen Ereignisse ist noch nicht ganz klar: Sind wir Publikum einer Tragödie oder Zuschauer einer komischen Oper? Und wer schreibt das Stück (falls es überhaupt eines gibt)? Ein unbekanntes Autorenteam, die Schauspieler selbst oder die Billeteure? Am Ende wir alle, in der verbindenden Mechanik des Tischerlrückens?

Dieser Tage castet Theaterdirektor Van der Bellen, ein Mann von grüner Laune und grauer Miene die nächste Exekutive des Landes. Eine Regierung aus Experten und Beamten. Sehen wir uns diesen Menschenschlag an. Woher kommen diese Leute, was können sie und wohin werden sie uns führen?

Wir alle kennen sie. Wir alle fürchten sie: Die Beamtin, den Beamten. Anders als die Wirtin, die Sprechstundenhilfe oder die Supermarktkassierin ist die Amtsperson keine Akteurin lebenswichtiger Funktionen des Alltags, sondern eine Botschafterin. Sie ist ein Organ höchster exekutiver Eleganz. Sie vermittelt zwischen Macht und Ohnmacht, nach österreichischem Verständnis der Verhältnisse zwischen der Behörde (dem Staat) und uns (dem Volk). Die Amtsperson hat die unlösbare Aufgabe, uns dieses Verhältnis mitzuteilen. Sie bedient sich dazu einer Myriade rätselhafter Formulare, erniedrigender Rituale und der Transzendentaltextsorte Bescheid. Teil der Begegnungskultur ist der Parteienverkehr und in dessen Rahmen das Erläutern von Unerläuterbarem. Dabei verliert sich die Amtsperson niemals in der Idee idealer Zustände. Sie präsentiert die Grundform der österreichischen Bürokratie-Befindlichkeit, sie versteht sich als Vertreterin einer Obrigkeit. Einer Obrigkeit, wie sie Habsburgerabsolutismus und seine Nachgeburten Ständestaat und Nazidiktatur im Land der Berge etabliert haben. Wenn wir einer Amtsperson begegnen, treten wir habituell in einen Dialog mit den Untoten.

Unter diesem Druck leidet die Amtsperson. Sie entlastet sich und uns, indem sie sich vom fremdbestimmten Werkzeug zum selbsthandelnden Subjekt erhöht. Die Amtsperson, die Beamtin, der Beamte, tritt uns also in der Regel nicht mehr ausschließlich als Vertreterin einer Behörde, eines Dezernates, eines Referates, eines Ministeriums entgegen, sondern versteht sich als deren Interpretin. Das macht die Dinge nicht einfacher.

Als Habilitierte im Fach Österreichkunde verstehen wir uns in der Kunst, mit der Amtsperson zu verhandeln. Wir können einer Amtsperson jederzeit erfolgreich einreden, unsere meterlange Fahne stamme vom Franzbranntwein an der verspannten Schulter, der Fahrschein befinde sich in der anderen Jacke, der Hund habe den Einschreiber gefressen. Die Amtsperson wird uns nicht glauben, aber so tun. Oder uns glauben, aber nicht so tun. In einem alles und alle durchdringenden Prozess der Verösterreicherung vereinigt die Amtsperson auf eigenen und fremden Zuruf sämtliche Mächte in sich, die Exekutive (ihre eigentliche Aufgabe), die Judikative (ihre große Schwäche) und die Legislative (ihre geheime Leidenschaft), sie transzendiert im Absoluten. Will doch die Amtsperson, wenn sie sich spüren will, nicht gefürchtet werden. Die Amtsperson will geliebt werden (manchen genügt die Anbetung). An der Erfüllung dieses Wunsches scheitern beide Seiten, Amtsbehandelte und Amtspersonen.

Wer sind diese bekannten Unbekannten? Wer sind diese Amtspersonen, die wir alle so gut zu kennen vermeinen? Wo wurde die Beamtin, wo wurde der Beamte sozialisiert, was hat Menschen aus diesem kleinen, aber eminenten Bevölkerungssegment zu dem gemacht, was sie sind, wo erlangten sie Expertise für ihr Lassen und ihr Tun? Was hat sie geprägt? Das Amt. Das Amt als Ort, das Amt als Idee, das Amt als Beruf. Das Amt als Erfüllung allen Österreichischen.
Schauen wir uns die Begrifflichkeit etwas genauer an. Was steckt im Wort selbst, welche Geschichte hat es aufgesogen, welche Bedeutungen erfahren? Die Silbe „Amt“ kommt vom germanischen Wort ambahtjan (Gefolgsmann), ambaχtaz (Diener, Dienstmann, Büttel), und ist dem gallisch-lateinischen ambactus entlehnt, „den (um den Herrn) Herumbewegten“. Das Französische hat auf diese etymologischen Verhältnisse mit ambassade geantwortet, das Italienische mit ambasciata und das Englische mit embassy, unserem Begriff der „Botschaft“. Das Amt ist also Konsulat zwischen Obrigkeit und uns. Wer die Obrigkeit ist, werden wir noch untersuchen.
Hinter jedem Amt steht immer auch die Person. Das graue Individuum in Funktion. Wie geht es uns mit der Person? Die Vokabel wurde im 13. Jahrhundert aus dem lateinischen persona ins Deutsche übernommen. Manche Sprachwissenschafter halten den Begriff für eine Entlehnung aus dem griechischem prosôpon (Maske, Rolle, Mensch), anderen zufolge kommt es vom etruskischen phersu, Maske. Hinter dem Begriff „Person“ steht seit der Antike das tiefenpsychologische Bild, demnach Menschen in den meisten Situationen nicht sich selbst repräsentieren, sondern sich wie Schauspieler verhalten, die ihre Rolle mehr oder weniger gut spielen. Die tragischen und komischen Masken des antiken Theaters hatten einen trichterförmigen Mund, durch den die Stimme „personierte“, im besten Sinne des Wortes also durchtönte. Fassen wir zusammen: Die Amtsperson ist nach Lage der sprachgeschichtlichen Verhältnisse herumbewegt und durchgetönt, Botschafterin des Selbst.
Wer aber ist dieses Selbst? Sind das wir, sind das sie, die Botschafter? Die Message-Kontrolleure? Und wessen Botschaft wird vermittelt? Die des Souveräns? Wer ist das jetzt wieder? Das Volk (wie oft gesagt), das Parlament (wie man auch schon hören konnte), oder der Herr Bundespräsident (die neueste Theorie)? Wir werden diese Frage noch klären.

Zurück zum Amt, idealtypisch verkörpert in der Person des Hofrats, der höchsten (und alle Genderstereotypien transzendierende) Form beamteten Seins. Der Titel für oberstes österreichisches Beamtentun hat den Untergang des kaiserlichen Hofes unbeschadet überstanden und sich in der Regel von jedweder imperialen Ratstätigkeit befreit. Als Ehrentitel vom Bundespräsident an Gymnasialdirektoren und Richter verliehen, unterscheiden Kundige „Titular“-Hofräte“ von „wirklichen“ Hofräten (so der Amtstitel für „wirkliche“ Beamte der höchsten Dienstklassen). Nicht selten leiteten pensionierte Hofräte, „Hofräte i. R.“ (Hofräte im Ruhestand) die Geschicke der früheren Diensstelle auch nach der Emeritierung. Das macht sie, das macht ihn zu einer Person höchster verwalterischer Expertise. Der Hofrat Vergeiger ist Schutzheiliger allen folgenlosen Irrens.

Wieso sind wir nicht früher auf die Idee gekommen, die Expertise der Beamten ministeriell zu nutzen? Wir sind. Sehen wir uns die dunkle Seite der Medaille an.

Die Geschichte der österreichischen Verwaltung wäre nur lückenhaft erzählt, ohne Augenmerk auf eine wirkmächtige Nebenform der Amtsperson zu werfen: Den Apparatschik. Im Rahmen eines Henne-Ei-Problems ist noch gänzlich ungeklärt, wer zuerst da war. Der Apparatschik oder die Strukturen, in denen er sich bewegt. Hat der Apparat den Apparatschik erschaffen, oder der Apparatschik den Apparat? Das Wort selbst bezeichnet den servilen und stets vorauseilend gehorsamen Funktionär eines Parteiapparats. In fataler Konsequenz wird die Durchtränkung jeglicher Verwaltung mit Apparatischiktum einzig der österreichische Sozialdemokratie angelastet. Die christlich-soziale Welt bediente sich des Aktenläufers, Freiheitliche und Liberale (und neuerdings die türkise Sekte) des Zuträgers, vereinfacht des Schakls.

Die Strategie, sich bei Vorgesetzten beliebt und wenn möglich unentbehrlich zu machen, ermöglicht dem Apparatschik in bürokratisierten Systemen den direkten Aufstieg in die Vorstands- oder Parteispitze, wo er unversehens zum Bonzen wurde.
Im Rahmen der Architektur österreichischer Parteiapparate können sich Sitzungsgestählte zu Funktionsakkumulatoren ausbilden lassen, dabei werfen sie jegliches belastbare Vorwissen ab und installieren sich als Vorsitzender, Obmann, Buagamasta, Bezirkskaiser und schließlich: Landeshauptmann. Als höchste Form der Erkenntnisbefreiung wird dann der nichtamtliche Titel Grande geführt.

Die Urform der österreichischen Amtsperson sehen manche in Maria Theresia. Nicht zufällig finden sämtliche Angelobungen der Republik unter einem Staatsportait der Habsburgerin statt. Modernere Hermeneutik indes macht Kaiser Franz Joseph als prägende Gestalt der österreichischen Amtskavallerie aus. Der Langzeitmonarch musste die ihm zugedachte Rolle als Krieger nach mehreren fatal verlorenen Waffengängen gegen eine Dauerstellung im Innendienst tauschen. Dort entwickelte der Habsburger eine exemplarische Form des Amtspersonentums. Eine höhere Dienststelle war kaum denkbar. Tag für Tag arbeitete Franz Joseph im Rahmen seiner Kontrollverlustsdepression klafterhohe Aktenstöße durch, signierte, dekretierte im Minutentakt und hielt Amtsstunden, die nur aus Respekt vor dem Fetisch Gottesgnadentum „Audienz“ genannt wurden und die in Form und Inhalt ein persönlich vorgetragenes Gebet an die allerhöchste Amtsperson darstellte.
Mit der Transformation Österreichs von der apostolischen Monarchie zur demokratischen Bundesrepublik trat das Volk selbst die Dienststelle als Souverän an. Im kulturellen Gedächtnis der Verwaltung blieb aber der Kaiser oberster Beamter. Er hieß jetzt nur anders: Bundespräsident. Und er wurde nicht von Gottes Gnaden inthronisiert, sondern gewählt. Diese Wahl des österreichischen Bundespräsidenten leistet traditionell zweierlei. Sie bestätigt der Öffentlichkeit, es besteht aus Wahlvolk, Parteien und Presse (und neuerdings der Twitteria), dass das höchste Amt im Staate dem höchsten Geschlecht im Staate zusteht. Nach herrschender Glaubenslehre ist dieses das männliche Geschlecht. Wohl haben immer wieder Frauen versucht, Bundespräsident zu werden, gelungen ist ihnen bisher nur, Bundespräsidentschaftskandidatin zu werden. Heide Schmidt konnte Irmgard Griss zuletzt viele Strophen dieses alten Lieds vorsingen.

Kommen wir zum zweiten Aspekt einer Bundespräsidentschaftswahl. In ihm finden jene Befindlichkeiten ihren Ausdruck, die das Gefühl betreffen. Der Bundespräsident soll (so das ungeschriebenes Gesetz) Franziskojosephinizität ausstrahlen. Wir erinnern uns: Der grantige alte Kaiser im blauen Galarock war vor allem eines: Staatsnotar und Dekretsignierer. Mit tattrigem Nuscheln und einer ans Ewigliche kratzenden Langsamkeit erfüllten Franz Jonas und Rudolf Kirchschläger diese Vorgaben fast idealtypisch. Auch der reitende UNO-Monarch Kurt Waldheim trat als Greis und Vollösterreicher an, zudem konnte er sich genau erinnern, woran er sich nicht erinnern konnte. Das sprach einer Mehrheit der Österreicher aus dem Herzen. Die Antwort aus dem Dilemma der Frühveralzheimerung der Staatsspitze war Thomas Klestil, Straßenbahnersohn aus Erdberg und gelernter ambactus, Diplomat. In seiner sichtbaren Wut über Zustände und Entwicklungen fanden sich auch Nichtbürgerliche wieder. Klestil etablierte die nach unten zeigenden Mundwinkel als Präsidialsignum, erfand die Präambel und gefiel sich und der Opposition im Ablehnen von Ministern. Heinz Fischer schließlich war Mahner und Abwiegler in einem, Distanzakrobat und Händeschüttler, Sphinx und Klarträumer, kurz Sozialdemokrat der alten Schule. Es wunderte nicht, dass der nächste Bundespräsident nicht allzu sehr aus der Reihe seiner Vorgänger tanzte. Bart, Grant, Nuscheln, Langsamkeit. Alles sprach für Alexander Van der Bellen.
In einer das Amt vollständig ausfüllenden Unantastbarkeit hat sich der in Wahl, Stichwahl und Stichwahlwiederholung gekürte Professor zur Letztinstanz über alle Entscheidungen gewandelt. Sogar grausamste politische Gegner knicksen mittlerweile in Demut vor der Grundgütigkeit seiner bundespräsidialen Administrativhandlungen. Alexander Van der Bellen I. ist schon jetzt der beliebteste UHBP der Geschichte.

Es darf uns nicht wundern, wenn der Republikmonarch auf das Stolpern der Regierung aus Freischaffenden und Kompetenzagnostikern mit der Einsetzung von „Experten“ antwortete. Das Parlament erkannte die Zeichen der Zeit und rief die Beamten in Erinnerung. Sie waren immer schon die wahren Regenten des Landes.


Andrea Maria Dusl, Filmemacherin, Zeichnerin und Autorin ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.

Mein Jesus

Mein Jesus war ein guter Mann. Er wandelte über Wasser, machte Blinde sehend, Lahme stellte er auf die Füße und bei einem großen Fest verwandelte er Wasser in Wein. Ich hätte zwar Himbeersaft angeraten, aber Jesus war ein Erwachsener und Wein wohl für Seinesgleichen die bessere Wahl. Ich war rundum zufrieden mit Jesus, er war mein Freund Harvey. Sichtbar unsichtbar. Bereit mit dem Teufel zu streiten und dabei zu gewinnen. Mit Jesus an meiner Seite konnte mir nichts geschehen.

Dieses Glück sollte nachhaltige Erschütterung erfahren.

Benedikta hieß sie, Schwester Benedikta. Nicht Helga, nicht Roswitha, nicht Gertrud, nicht Inge. Benedikta, die Gebeneidete hieß sie, gebenedeit unter den Frauen. Benediktas hagerer Körper war von schwarzem Tuch verborgen. An ihrem Finger steckte ein goldener Ring. Schwester Benedikta war, wie ihre Mitschwestern auch, und wie wir bei wiederkehrender Gelegenheit expliziert bekamen, Ehefrau des Heilands, Jesu Christi, des Gottessohnes, des Auferstandenen. Jesus, mein Freund, war der Ehemann der Schwestern? Der Ehemann aller Schwestern. Goldene Ringe trugen sie alle. Welch Verrat an der Freundschaft mit mir. Benediktas goldener Ring war nicht bloß ein Ring, der Ring war das sanctum praeputium. Die Vorhaut Jesu, im kirchlichen Schamgefühl „heilige Tugend“ genannt. Das kostbar penile Gewebe war der Heiligen Katharina von Siena während einer Ekstase von Jesus persönlich geschenkt worden.

Jesu Ehering konnte man auch spüren. Wenn Schwester Benedikta Schläge austeilte, wegen Laufens am Gang, wegen verbotenen Flüsterns in der „stummen Pause“. Der goldene Ring, die Vorhaut Jesu, hart und kalt, hinterließ eine kurze Spur des metallischen Schmerzes, wenn Benediktas flache Hand, von hinten über unsere Hinterhäupter zog. Der erste dieser Schläge war der Moment, in dem ich Jesu Schmerz in mir spürte. Das Ostern aller Ostern. Die gesamte Passion. Und in einem, erst später verstandenen Moment der Klarheit fuhr da mein Jesus, mein guter Freund in den Himmel. Für immer. Andere hatten ihn verraten. Er blieb für mich verloren. Ich muss in meine Kindheit zurückreisen, um ihn zu finden. Das ist eine eigene Passion.

Andrea Maria Dusl. Essay für die Oster-Wochenendausgabe einer Österreichischen Tageszeitung. 20.4.2019. NICHT VERÖFFENTLICHT.