Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 28/2025 vom 9. Juli 2025
Liebe Frau Andrea,
beim Besuch der Dauerausstellung des Wien Museums stieß ich auf eine Erklärung des Worts „Sandler“. Das seien jene Menschen gewesen, die in den Ziegelwerken den Sand in die Formen streuten. Der Duden, den ich zuhause hinzuzog, sagt hingegen, der Begriff käme aus dem Mittelhochdeutschen – „seine“ bedeutet langsam, träge. Was stimmt denn nun?
Ihre Anna Stibitznik, 1010 Wien, per Email
Liebe Anna,
Sandler ist einer der Begriffe im Wienerischen, denen Volksetymologie und Wörterbuchautor·innen eine Vielzahl von Ursprüngen zuspricht. Als Sandler wurde bis in die Zeiten politischer Korrektheit und woken Sprachgebrauchs der meist männliche, verwahrloste und unprofessionell bettelnde Obdachlose bezeichnet, der Faulpelz, Schnorrer und Arbeitslose. Ein bedeutungsidentes Wort im Wienerischen ist der Griaßler (nicht zu verwechseln mit dem Greißler, dem kleinen Lebensmittelhändler). Aus dem wienerischen Griaß (mittelhochdeutsch griez, griesch) für Sandkorn, Kiessand, Strand entwickelte sich um 1900 die Bezeichnung Griaßler für die, auf den Sandbänken der Donau und des Wienflusses lagernden Obdachlosen. Die häufig zirkulierende Theorie der Abkunft des Begriffs von sandstreuenden Ziegelarbeitern ist schön aber falsch, ebenso wie die, es käme von althochdeutsch „-seimi“, mittelhochdeutsch „seine“ (langsam, träge), gehört dies doch im Sinne von langsam fließend, tröpfelnd zum Substantiv Seim, das Sämige. Demnach müsste der Sandler ja Seimer heißen.
Wie so Vieles hat der Sandler seinen Ursprung im Rotwelschen, wo mit „Sand“ die Läuse bezeichnet werden. Sandig sein bedeutete Ungeziefer zu haben, angesandelt zu sein, Läuse zu haben. Zandik, Sandig bezeichnet im Neuhebräischen den Gevatter. Im Rotwelschen nahm das Wort die Bedeutung Parasit, Mitwisser an, der etwas von der Beute verlangte und erpreßte, synonym mit Blutsauger. Der Sandler ist also der von Läusen befallene, hygienisch unterversorgte Mensch.
Ist das so weit weg von uns? Nein. Die Wiener Alltagssprache kennt das Wort „ansandeln“, soviel wie anstecken für den Infektionsvorgang durch Niesen und Husten.
Gesundheit!