Das Wiener Kaffeehaus

Ein Essay von Andrea Maria Dusl

Für die WELT am SONNTAG; geschrieben am 28.7.2016

-> Wiener Kaffeehäuser sind mythische Orte – in: Welt Am Sonntag vom 8.1.2017, S. 52/53.

©Andrea Maria Dusl - Wien - Café Sperl comandantina.com
Café Sperl, Wien.

Das Kaffeehaus ist der Minotaurus im Labyrinth Wien, jenem Irrgarten, in dem sich alle auskennen. Als Ariadnefaden dient der Diskurs, der hier gepflogen wird. Sei er selbstreferentiell oder dialogisch.

Viel Unsinn ist über diesen wienmythischen Ort geschrieben worden. Das meiste von Einheimischen, der Rest von unterinformierten Adoranten aus dem befreundeten Ausland. Effekt dieser Publikationsflut ist ein grundsätzliches Missverständnis Uneingeweihter über Funktion und Bestimmung des Wiener Kaffeehauses.

In Zirkulation befinden sich Deutungen, die dem Wiener Kaffehaus uneingelöste gastronomische Kompetenzen zusprechen – von der Eleganz und dem Charme der Oberkellner ist die Rede, von der fabulösen Mehlspeistradition, und der unnachahmlichen Qualität des hier gesiedeten Kaffees. Unsinn.

Wegen des Kaffees jedenfalls ging oder geht niemand mit ernsten Absichten und einigermassen Erfahrung in ein Wiener Kaffeehaus. Der Bohnenseich ist im besten Fall trinkbar, meist ärgerlich bitter, schal und nicht selten schlicht ungenießbar.

Warum also geht man in Wien in ein Kaffeehaus? Warum bleibt ein Wienbesuch leer und ereignislos, ohne den Besuch einer solchen gastronomischen Einrichtung? Die Frage ist so berechtigt, wie unbeantwortet. Im Triestiner Caffè degli Specchi gibt es den besseren Kaffee, das venezianische Caffè Florian hat die bessere Adresse (und das elegantere Ambiente), das New York kávéház in Budapest beeindruckt mit grösserem Prunk und in den Pariser Cafés Les Deux Magots und de Flore wird mehr und höherstehend philosophiert, geschrieben und debattiert. Was also macht das Wiener Kaffeehaus zu einer Institution von weltgeltender Einzigartigkeit?

Ins Wiener Kaffeehaus, so die lokale Sinnstiftung, ging und geht man, um sichtbar unsichtbar zu sein, ungestört zu stören, und, wie es so treffend heißt, nicht daheim zu sein und doch zu Hause. Das ist alles? Das ist alles.

Das Wiener Kaffeehaus, eine orientalische Idee, 1685 vom Armenier Owanes Astouatzatur vulgo Johannes Diodato erstmals eingerichtet, ist eine Akademie der Dialektik. Die Verhältnisse an diesem real-irrelen Ort können auch überschiessen und statt ins Paradies direkt in den Untergang führen. Das Wiener Kaffeehaus, so dürfen wir ein Zitat Winston Churchills abwandeln, produziert mehr Geschichte, als es lokal konsumieren kann.

Gehen wir näher ran. Dort wo der Schmerz sitzt. Wiens Öffentlichkeit ist spärlich entwickelt. Es gibt eine Presse, aber sie hat nur lokale Bedeutung. Es gibt eine Intelligenzija, aber sie meldet sich kaum zu Wort. Die Menschen in der Metropole der Depression haben nie Gelegenheit ergriffen, eine heterogene zivile Gesellschaft aufzubauen, geschweige denn, ein Sensorium dafür zu entwickeln, was Öffentlichkeit bedeutet, bedeuten kann und in letzter Konsequenz: bedeuten soll. Es wundert also nicht, dass sich in der Versuchsstation des Weltuntergangs stattdessen eine Kultur der Halböffentlichkeit entwickelt hat.

Die einzige brauchbare Begegnungsstätte dieses verborgenen Austauschs, eine Agora aphana, war und ist das Kaffeehaus. Es ist die einzige funktionierende Aufklärungsmaschine des Landes. Im Kaffeehaus wurden und werden Nachrichten gedealt, Revolutionen geplant, Symphonien geschrieben. Im wörtlichen, nicht im metaphorischen Sinn.

Eine oft erzählte Anekdote des sozialdemokratischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky kolportiert einen Ohrenzeugenbericht seines Vaters. Als in dessen Stammlokal, dem Café Central die Nachricht von der Oktoberrevolution eintraf, sei sie von einem anwesenden Minister mit Unglauben aufgenommen worden: “No, sag, mir einmal, wer soll dort eigentlich Revolution machen, vielleicht der Herr Bronstein dort drüben?“ Lew Dawidowitsch Bronstein, schachspielender Stammgast im neogotischen Kaffeehaus in der Wiener Herrengasse, war niemand geringerer als der russische Revolutionär, spätere Außenminister und Gründer der Roten Armee: Leo Trotzki. Besagter Bronstein, die späteren Diktatoren Stalin und Hitler, der nachmalige Jugo-Marschall Tito und ein gewisser Dr. Freud sind, so die oft angestrengte Überlegung, mit einiger Wahrscheinlichkeit im Jahr 1913 gleichzeitig im Café Central gesessen und haben ihr jeweiliges Leibblatt studiert, vielleicht sogar die eine oder andere Partie Schach oder die Kaffeehauszerstreuung Karambol miteinander gespielt, jedenfalls aber Kaffee aus der selben Maschine getrunken.

Viel wurde geschrieben und berichtet vom Lieblingscafé, vom Stammcafé. Auch dieser Mythos steht auf schlechtem Fundament, denn die Wienerin und der Wiener und alle, die es ihnen gleichtun, haben für jeden Zweck ein eigenes Kaffeehaus. Für das Ungestörtsein eines, für schwierige Treffen ein anderes, ein drittes für das Rendezvous, ein weiteres für den Tortenheißhunger und ein fünftes, in dem man jederzeit ungefragt aufs Klo gehen kann.

Die Kaffeehäuser der Stadt sind Maschinerien mit vielfältigem Kharma. Manche hat der Kaffeehausgott zu früh von uns genommen (und in Autosalons und Fluglinienbüros überführt). Manche hat er bis zur Kenntlichkeit entstellt, manche hat er dem Dämon touristischer Tauglichkeit geopfert. Nicht wenige hat die Vergangenheit in den bösen Strudel der Vernichtung gezogen. Auf der Suche nach einem typischen Wiener Kaffeehaus bietet etwa der Zweite Wiener Gemeindebezirk ein trostloses Bild. Das hat Gründe und sie sind bitter. Die Mazzesinsel, vorrangiger Wohnbezirk des jüdischen Mittelstandes, wurde von den Nazis grausam entvölkert. Wo es kein Publikum für die Institiution Kaffeehaus gab, sperrten auch die arisierten Cafés bald zu.

Die Liste derer, die in einem spezifischen Kaffehaus verkehrten, war stets länger als das Verzeichnis der Abwesenden. Würde Wien bis auf alle Grundmauern verschwinden und nur ein einziges Café bleiben, man könnte die Stadt wiedererrichten aus den Geschichten, die hier erlebt wurden, aus dem Personal, das es bevölkerte, aus der Sprache, die hier gesprochen wurde.

Im Paralleluniversum Kaffeehaus wurde und wird ein Jargon gepflogen, der das Amüsement des Alltäglichen auf der Schaumkrone des Abgründigen spazierenschippert. Für Hege und Pflege dieser Sprache, die als „Kaffeehauswienerisch“ noch nicht endgültig erforscht und beschrieben ist, sorgt eine (meist kleine) Stammkundschaft, die sich in hingebungsvoller Treue um einen sogenannten “Lieblingskellner” schart. Einer dieser Protagonisten, das Original “Herr Peter”, des verlustig gegangenen Intellektuellen-Cafés Salzgries, führte allen ernstes Visitenkarten, die ihn als „Peter Ferber, Leitenden Direktor der manuellen Getränke-, Kaffee- und Lebensmittelspedition auf mikroregionaler Ebene“ auswies. Besagter ist nicht das einzige Original im Kosmos Café. Legendenhafte Verklärung wurde etwa dem Kaffeesieder-Ehepaar Hawelka zuteil, das im gleichnamigen Künstlercafé die Polarität von Oberkellner-Depression und Kuchenküchen-Manie zelebrierte. Ein Besipiel anderer Dimension manifestierte sich in “Herrn Robert”, der drei Jahrzehnte hindurch im ehrwürdigen Politiker-Café Landtmann amtierte. An seinem letzten Arbeitstag ehrte ihn zahlreich erschienene Prominenz. Wiens Bürgermeister Michael Häupl servierte dem Scheidenden, der ihn so oft bedient hatte, einen kleinen Braunen und überreichte ihm die populärste Auszeichnung der Stadt, den “Goldenen Rathausmann”. Für den „berühmtesten, diskretesten und zuvorkommendsten Kellner Wiens“.

Zuvorkommend muß nicht freundlich heißen. Ist doch die zentrale Befindlichkeit eines Wiener Kaffehauskellners (Arbeitskleidung: schwarzer Smoking, weisses Hemd, schwarze Fliege) der “Grant”. Touristen und Stadtnovizen haben bei Identifizierung und Einordnung dieser spezifisch Wienerischen Befindlichkeit schlechte Karten, sind sie doch durch die gastronomischen Usancen in angloamerikanisch empathisierten Gegenden verweichlicht und empfinden Groll und Unsicherheit gegen jene wortkarge Befindlichkeit, die unter der wienerischesten aller Wiener Gefühlswetterlagen summiert werden.

Auf der Suche nach dieser Seelenregung werden wir bei bei Thomas Bernhard fündig, der diese überaus Wienerische Laune wie eine Exoprothese einzusetzen wusste. In anderen Gegenden als der Bitterwelt Bernhards wäre der “Grant” eine Sünde wider das Miteinander, im Wien der Ichleidenden ist er nicht die Krankheit, sondern sein Remedium. Wer in Wien grantelt (und nur hier lässt es sich granteln), der ist schon auf die sichere Seite therapeutischer Sinnstiftung gekrochen. Der Grant ist tiefgefühlter Ausdruck ehrlichen Ringens um Güte. Man hüte sich, befinde man sich in Wien, vor der Lüge der Freundlichkeit.

Eine beliebte Herkunftshypothese will den Grant, die Miene gewordene Unzufriedenheit, in den Gesichtern der neuzeitlichen spanischen Granden ausmachen, die Wien im Zuge der habsburgischen Imperialexpansion aufsuchten. Nach dieser Erklärversion hätten die Wiener die blasierten und übelgelaunten iberischen Aristokraten als grandig, grantig wahrgenommen und die höfische Bezeichnung für die Hohen Herren flugs zur Vokabel für hiesiges Stimmungsklima gemünzt. Etwas wahrscheinlicher ist eine Wortherkunft vom althochdeutschen “grintan”, mit den Zähnen knirschen. Mit größerer Sicherheit kommt der Grant aber vom oberdeutschen “grennen”, weinen. Hier schliesst unser heute noch verwendetes Greinen an, das lautmalerisch dem Weinen ähnelt, und das leise in sich Hineinflennen meint, ursprünglich aber wohl – wie das verwandte Grinsen –  jegliche Form des Mundverziehens bezeichnete. Wir fassen die Kaffeehausgefühle zusammen: Einzig der Grant ist Glückes Garant.

Als es in den späten Neunzigern kalt geworden war in der Stadt und die politische Rechte erstmals ihre populistische Schraube angezogen hatte, leimte die Freiheitliche Partei Jörg Haiders gequirlten Unsinn an die Wände: „Wien darf nicht Chicago werden“.

Kaffeehausliteraten antworteten an der Toilettenwand des Café Salzgries: „Wien darf nicht Österreich werden.“


Die Filmemacherin und Autorin Andrea Maria Dusl ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt erschien ihr Essayband “So geht Wien! Von Arschkappelmuster bis Zwiebelparlament” (Metroverlag, Wien, 2016; ISBN 978-3-99300-244-2).

 


Die nachfolgenden Empfehlungen sind eine subjektive Auswahl der Autorin und folgen jahrzehntelanger Expertise im Shortening von Longlists.

Café Bräunerhof

Stallburggasse 2, 1010
Mo-Fr 8-19.30, Sa 8-18.30; So, Feiertag 10-18.30
+43 1 512 3893

Thomas Bernhard saß hier, das Glück der Depression auskostend, in kritischer Nähe zu seinem lebensbestimmten Leiden: Österreich. Die Kellner gelten als die grantigsten Wiens, ihr Servierhabitus ist dennoch olympisch. Das Bräunerhof ist die ideale Mischung aus Nachrichtenbörse, Echokammer, Therapiesalon und Denkklause.

Kaffee Alt Wien

Bäckerstraße 9, 1010 Wien
täglich 10-02
+43 1 512 5222

Die Lokalität mit der düsteren Anmutung einer mittelalterlichen Kaschemme hat einen Ruf als Nachtcafé der Wiener Bohéme, den es mit großer Beharrlichkeit auch unter Tag zu verteidigen sucht, wo diese Leute gemeinhin noch schlafen. Obwohl als Kaffeehaus etabliert, trinken Stammgäste Kaffee hier nur als Akut-Weckamin. Bier und Rotwein sind die Getränke der Wahl, gart die slawischen Höhle Alt Wien doch das beste Gulasch der Stadt. Korrigiere: der Welt.

Café Landtmann

Universitätsring 4, 1010 Wien
täglich 7.30–24
+43 1 24 100-100
cafe@landtmann.at
www.landtmann.at

Das Kaffeehaus in unmittelbarer Nähe von Universität, Burgtheater und der Parteizentrale der Sozialdemokraten hat als eines der wenigen Ringstraßen-Cafés die Reise durch die Zeit mit Würde überstanden und gilt in Ausstattung und Bedienung als elegantestes Kaffeehaus Wiens. Im Landtmann werden nach Angabe der Betreiberfamilie im Durchschnitt 2,8 Pressekonferenzen pro Tag abgehalten. In der Verschwiegenheit seiner Polsterlogen werden Kabinette zusammengestellt und Regierungen gestürzt.

Café Hawelka

Dorotheergasse 6, 1010 Wien
Mo-Mi: 8-24, Do-Sa: 8-01, So und Feiertage: 10-24
+43 1 512 8230
office@hawelka.at
www.hawelka.at

Das plakatpatinierte Café in einer kleinen Seitengasse des Grabens wurde 70 Jahre lang von Kaffeehaus-Legende Leopold Hawelka und seiner böhmische Buchtel backenden Frau Leopoldine geführt. Die Fama besagt, Hawelka hätte das Café bei seinem Ableben als Hundertjähriger zum erstenmal verlassen. Das Hawelka, das sich seit 1912 in unverändertem Zustand befindet, verstand sich stets als Wohnzimmer für angehende und etablierte Künstler und ihre Bewunderer.

Café Westend

Mariahilfer Straße 128, 1070 Wien
täglich 7–02
+43 1 523 3183

Trotz (oder wegen) seiner Nähe zum Westbahnhof atmet hier alles den verblichenen Charme klassischer Wiener Kaffehaustradition. Auf den durchgesessenen Polsterbänken, den knarrenden Thonetstühlen und den marmornen Tischen hat die Zeit, nicht aber die Kaffehaus-Renovations-Mafia ihre Spuren hinterlassen. Dankbar wird das von einem egalitär zusammengesetzten Publikum aus Reisenden, Gelegenheitsspionen und Genre-Connaisseuren angenommen.

2 Gedanken zu „Das Wiener Kaffeehaus“

  1. Guten Tag,
    ich würde gerne das von ihnen genannte Zitat von Winston Churchill nachschlagen, könnte ich ihre Quelle bekommen?
    sehr informativer Post.

    1. Das Zitat lautet sinngemäß „Der Balkan produziert mehr Geschichte, als er verbrauchen kann“. Wann und wo und in welchem Zusammenhang Churchill das gesagt hat, müssten sie selber recherchieren.

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