Ich bin für Flora

Der Zeichner Paul Flora feiert dieser Tage seinen 80. Geburtstag. Der „Falter“ hat den Künstler in seiner Innsbrucker Villa auf der Hungerburg besucht und wurde sogar ins Innere der Flora’schen Welterschaffungsmaschine vorgelassen.

Eine Hommage von ANDREA MARIA DUSL, erschienen in Falter Nr. 26/02 vom 26.06.2002, Seite 58.

Er zeichne, räsoniert Paul Flora in einem retrospektiven Katalogtext, „um mich selbst zu unterhalten“. Er sei also ein gewöhnlicher Egoist, dem es nicht um die Rettung des Abendlandes ginge. Lehren würden von Propagandisten verkündet und wer Botschaften habe, solle ein Telegramm schicken, zitiert Flora Billy Wilder. Matisse hat sich dazu bekannt, Bilder zu malen, die wie bequeme Sessel wirken. Schwitters wiederum merkte an, er sei Künstler, und wenn er ausspucke, so sei dies Kunst. „Ich bin für Matisse“, deklariert sich Paul Flora. Ich bin für Flora.
Die Wiese, die Floras Innsbrucker Villa umgürtet wie ein Glacis eine barocke Festung, ist getrimmt wie der Rasen eines britischen Lords. Floras Händedruck ist weich und fest zugleich; es ist die Zärtlichkeit eines Mannes, dessen Stärke in seiner Bescheidenheit liegt.

Vor fünf Jahren habe ich Flora schon einmal besucht. Die Zeit ist stillgestanden hier auf der Hungerburg, wo Flora seit den Vierzigerjahren wohnt. Rollos halten die Hitze fern, die Innsbruck so früh im Sommer gar nicht gewohnt ist. Wie Pfeile durch Schießscharten dringt der flirrende Juni durch die Lücken, die die Rollos frei lassen, in Floras Wohnzimmer. Flora geht, um mir einen Orangensaft zu pressen. Für Schnaps sei das Wetter zu gefährlich.

In Floras Wohnzimmer hängt wenig von ihm Gezeichnetes. An den Wänden hängen und lehnen Arbeiten von Kollegen. „Ich bin kein Karikaturist, wie allzu oft vermutet wird!“ Zwar könne er schon Karikaturen anfertigen und seine langjährige Mitarbeit an der Hamburger Zeit sei sicher so eine Erfolgsgeschichte gewesen. Aber solche Zeichnungen seien willkommene Verzierungen, die gar nichts bewirkten. Gut gezeichnet und ein wenig geistreich sollten sie halt sein, andernfalls seien sie eine Zumutung.

Mit der Rigorosität, die jede fundamentale Lust begleitet, sitzt Paul Flora täglich vor Mittag an seinem Tisch und zeichnet. Setzt behutsam und doch kraftvoll Strich um Strich aufs Papier. Was nicht gelingt, landet im Papierkorb: Flora ist ein deflationistischer Handwerker. Er hat ein befreiendes Vergnügen daran, über sich und andere zu lächeln, ohne jemandem weh zu tun. Mit milder Melancholie trifft er, der sich stets als Unzeitgemäßen betrachtet hat, den Nagel der Zeit geradezu zärtlich auf den Kopf. „Flora ist nicht ohne Traurigkeit“, merkte Friedrich Dürrenmatt zu dem Album „Trauerflora“ an. „In seinem Werk sind Welten untergegangen, und wir ahnen, dass auch wir untergehen.“ Von apokalyptischen Visionen ist Flora dennoch weit entfernt, lebt er doch sowieso „optisch in der Vergangenheit“. Aus pragmatischen Gründen: „Weil sie zeichnerisch mehr hergibt.“

Er sei ein Kind seiner Zeit, betont Flora, kein Zögling seiner Zeit und vor allem kein Ministrant des Zeitgeistes. Den Zeitgeist hält er für die Summe der Vorurteile und Irrtümer, die gerade im Schwange sind. Zu viele Irrtümer des Zeitgeistes hat der Mann schon erlebt, der 17 Jahre alt war, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, und nun, am 29. Juni, seinen achtzigsten Geburtstag feiert.

Wie es ihm mit den Propagandisten des heutigen Zeitgeistes gehe, will ich wissen, nachdem wir uns gegenseitig versichert haben, dass das Phänomen „phantastischer Realismus“ völlig überbewertet ist. Zum Phänomen eines anderen phantastischen Realismus befürchte ich eine ausweichendere Antwort. Aber Flora findet auch zu dem, was ich vorsichtig als „die Regierung, die wir gerade haben“, bezeichne, klare Worte. Das gefalle ihm alles nicht wirklich, lächelt er, um die Vergänglichkeit solcher Zustände wissend. Wolfgang Schüssel ist, so wird kolportiert, ein großer Verehrer von Floras Zeichenkunst. Die Verehrer könne man sich leider nicht aussuchen, meint Flora dazu, der sich auch schon Kurt Waldheims einseitiger Zuneigung ausgesetzt sah. Kennen gelernt habe er keinen der beiden jemals persönlich. Wie sich offenbar auch Politiker scheuen, Flora persönlich zu begegnen.

Flora rollt die Enden eines abgerissenen schwarzen Schuhbandes, spannt es zwischen die beiden Daumen und Zeigefinger, dreht es ein. Als ich später ein Foto davon machen möchte, ist das Bändchen verschwunden. Wir werden vergeblich danach suchen. Auch in der Zuneigung für das Unscheinbare ist Flora ein verlässlicher Verbündeter.

Ob ich türkischen Kaffee tränke, fragt Flora, denn wenn dem so sei, möge ich ihm doch in den Keller folgen, in die dortige Küche, und der Einfachheit der Flora’schen Etiquette halber den Türkischen doch gleich am Ort seiner Erzeugung einnehmen. Die hölzerne Spindel der Wendeltreppe ist mit dicker weißer Farbe übertüncht, wir gehen auf weichem grauen Flor – offenbar wurde das Haus in den Siebzigerjahren eingerichtet. Am Weg zu Floras Küche kommen wir an den Heizräumen des Hauses vorbei. Ein knorriger Tiroler schraubt an irgendetwas herum, spricht Flora mit „Harr Professarrh“ an und will „de Cknittl“ haben, „de im Gortttn lieng“. Danach passieren wir ein Zimmer, das „der Student“ bewohnt, dessen Hiersein Flora als sehr angenehm empfindet. Paul Flora lebt also in einer Wohngemeinschaft.

Die Küche sieht aus wie eine Küche und würde im Großen und Ganzen das Attribut unspektakulär nicht verfehlen. Flora bietet mir Nektarinen an und stellt zwei türkische Kaffeetöpfchen aus Messing auf den Herd. Zweimal am Tag siede er sich türkischen Kaffee. Aus einem Gläschen fischt er Gurken für uns.

Wir setzen uns wieder nach oben ins schattige Wohnzimmer. Ich möchte Bilder von seinen Händen machen, bitte ich ihn, und welche von seinem Werkzeug. Flora setzt sich also an das Möbel, von dem ich dachte, es sei sein Zeichentisch, eine große, helle, elendslange flache Platte, aufgebockt wie der Zeichentisch eines Architekten. Flora setzt sich in Pose. Nein, nicht in Pose, setzt sich hin wie jemand, der die Pose scheut, und zerknüllt die Zelophanverpackung des Katalogs, den er mir mitgibt und den meine spitzen Finger sicher besser auspacken könnten, wie Flora meint. Als bedürfe der Missstand keiner expliziten Erörterung, steht Flora wortlos, Unhörbares murmelnd auf und führt mich über die Wendeltreppe zwei Stockwerke nach oben, unters Dach. Und da ist sie: Floras Sakristei. Das getäfelte Allerheiligste, das alchemische Zeichnerlabor. Wie ein Falke unterm Kirchendach sitzt der Hohepriester unter den Zeichnern Mitteleuropas hier unter den Giebeln seiner Villa. An den gewalmten Wänden ein Panoptikum an Bildern, Skizzen, Zeitungsausschnitten, Marionetten, Puppen, Figuren und reihum winzige, unters Dach gebaute Tischlein, nach innen gewandte Gesimse des Florismus.

Flora ist atemlos wegen der Hitze unterm Dach, ich wegen der Begegnung mit seiner Welterschaffungsmaschinerie. Hier also entstehen seine Zeichnungen! An einem schmalen Zeichenbänkchen, nicht viel tiefer als das eines Uhrmachers. Eine Armee von zugespitzen Buntstiftstummeln liegt da, bereit auf einem papierenen Schlachtfeld gegen unsichtbare Feinde anzutreten. Der Andreas Hofer unter Floras Zeichenutensilien ist die Feder. Und schwarz wie Hofers Bart ist die Tinte, in die Flora sie taucht. In einer Ecke, einem Altar gleich, hängen drei Raben. Riesige schwarze Raben, groß wie Hunde. Was es damit auf sich habe? Käufer seiner Zeichnungen wollen mitunter Raben, erfahre ich. Deswegen zeichne er solche auch.

Die Vintschgauer seien berühmt fürs Lügen, gibt mir Paul Flora mit auf den Weg. Von allen Tirolern seien die Vintschgauer die berühmtesten Lügner. Den Pustertalern, mit denen sie darin stets in Wettstreit lägen, weit überlegen. Nie solle ich einem Vintschgauer auch nur irgendetwas glauben. Paul Flora wurde vor achtzig Jahren in Glurns geboren – Glurns im Vintschgau.

© Andrea Maria Dusl

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